Jede Epoche hat ihre Stilelemente. Sie sind Ausdruck des Lebensempfindens. Da Glaube sich selten löst von dem Lebensempfinden, haben die sakralen Bauten und ihre liturgischen Ausstattungsstücke ihrem Lebens- und Glaubensempfinden künstlerische Gestalt gegeben. Dabei wurde nicht selten massiv in die Substanz alter Gebäude eingegriffen. Das geschah vermutlich ohne Skrupel. Es wird gegangen sein, wie es heute auch zu hören wäre: ‚Das Alte, das geht nicht mehr, das trifft nicht mehr unseren Geschmack, unser Lebensgefühl...’ Was wir aus der Gestaltung der eigenen Wohnung kennen, das machte – natürlich – auch nicht Halt vor den kirchlichen Versammlungsräumen.
Eingriffe im 16. Jahrhundert
So hat Maria Lyskirchen in seiner Geschichte große Eingriffe in die Bausubstanz erlebt: Anfang des 13. Jahrhunderts wurde der ursprüngliche Bau errichtet.
Im 16. Jahrhundert – zwischen 1520 und 1530 – erfuhr die Kirche eine große Veränderung, indem das Langhaus umgebaut wurde, und durch die spätgotischen Maßwerkfenster der romanisch eher dunkel gehaltene Raum eine neue Lichtigkeit erhielt. Aus dieser Zeit stammen die noch erhaltenen kostbaren Fenster der Nordseite.
Eingriffe im 17. Jahrhundert
Eine weitere massive Umgestaltung erfolgte im 17. Jahrhundert – 1658-1662. Da wurde das Gewölbe des Chorraumes eingerissen, die für die Romanik typische Zwerggalerie abgetragen, um die Apsis auf die Höhe des Mittelschiffs anzuheben. Durch die Erhöhung des Chores war Platz geschaffen für einen stattlichen, hoch aufragenden barocken Hochaltar für die Kirche. Die heute so gewichtigen Deckenfresken wurden weiß übermalt und blieben bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts verborgen bis vergessen.
Im Langhaus wurden die romanischen Arkaden-Öffnungen (bis auf die zwei im Bereich der heutigen Orgelempore) durch grob geschwungene Korbbogenöffnungen ersetzt. Das ist im Wesentlichen die Baugestalt, wie wir sie heute noch vorfinden.
Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Später haben die Zeit des 19. und die des 20. Jahrhunderts, vor allem die Wiederherstellung der Nachkriegszeit ab 1953 Spuren vor allem in der Innenausstattung hinterlassen. Immer wieder haben Lebensempfinden und Glaubensverständnis bei der Ausgestaltung der Kirche Pate gestanden. Auch unsere derzeitige Gestaltung und Nutzung des Kirchenraumes ist Ausdruck unseres Lebens und unseres Glaubens. Selbst das anhaltende Provisorium (keinen festen Altar, nicht Nutzung des Chorraumes) legen davon Zeugnis ab. Uns Nachfolgende werden die Kirche wieder anders nutzen und ausgestalten, vielleicht umbauen – weil das Zeitempfinden danach ruft, einen angemessenen Raum für das Ausspiel des Glaubens zu haben.
Das Kreuz steht neu in der Glasvitrine in der Katharinenkapelle. Die Vitrine war ursprünglich für das Salierkreuz gedacht. Da die Gefahr des Diebstahls dem Kirchenvorstand nach dem Kunstraub in Steinfurth als Risiko zu groß war, wurde nach vielfältigen Nutzungsüberlegungen die Vitrine mit dem Kreuz des barocken Hochaltares bestückt. Das Kreuz ist nach Angaben von Sabine Czymmek zwischen 1736-1746 in der Kölner Werkstatt Jacobus Jeaminet entstanden. Es handelt sich um eine schmuckvoll kostbare Arbeit handwerklicher Kunst. Silberauflagen – teils vergoldet – sind auf einem ebenholzartig gestrichenem Holz aufgebracht. Es sind Ornamente und Figuren. Im Mittelpunkt der Gekreuzigte, der als Lebender dargestellt ist. Sehr ausdrucksstark das Gesicht des Gequälten.
Der Sockel des Kreuzes
Der Sockel des Kreuzes zeigt in der Mitte das Motiv des Lamm Gottes. Die Strahlen deuten auf den Sieg des Lammes hin: Durch seine Hingabe in den Tod macht er die Herrlichkeit Gottes erfahrbar.
Links und rechts stehen Maria und Johannes, der Lieblingsjünger Jesu. Direkt unter dem Kreuz sehen wir Maria von Magdala.
Exponiert in der Mitte des Sockels des Kreuzes der Hl. Maternus, erkennbar an den Attributen des Bischofsstabes, des Buches und der drei Mitren. Der Stab weist ihn als Hirten aus; er ist der erste Bischof Kölns. Das Buch ist die Hl. Schrift, die Grundlage des Sendungsauftrages eines Bischofs. Zwei Mitren liegen auf der Bibel, eine trägt er auf dem Kopf. Maternus hat die drei Bistümer Trier, Tongern und Köln gegründet. Daher die drei Mitren als unverwechselbare Attribute der Darstellungen des Bischofs Maternus.
Maternus hat eine besondere Beziehung zu Maria Lyskirchen. Hier soll er – im Bereich der heutigen Krypta – im 4. Jahrhundert seine Zella, seinen Lebensraum, gehabt haben. Wegen dieser engen Bindung an Maria Lyskirchen finden sich mehrfache Darstellungen des Heiligen in unserer Kirche.
Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut und sprach: Eli, Eli, lema sabachtani? das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Mt 27,46
Zentrum ist der Gekreuzigte. Auffallend, dass der Kopf des am Kreuz Befestigten sich zur linken Seite neigt und nicht – wie sonst üblich – zur rechten. Fachleute deuten diese auffallend andere Haltung als Ausdruck der Darstellung des noch Lebenden. Damit ringt am Kreuz der Mensch, der in seinem Reden und Wirken Zeuge der Kraft des Lebens und der Liebe Gottes ist. Das Unerhörte ist der Glaube, dass das Leben dieses Menschen nicht im Tod vernichtet ist. Es ist Gottes Handeln, das mit diesem Leben verbunden bleibt. Gottes Gegenwart entzieht sich nicht im Geschehen des nahenden Todes. Gottes Gegenwart wird verkündet werden als das vom Tod nicht angreifbare unendliche göttliche Leben.
Der leidende Jesus am Kreuz wird im Kreuz umgeben von Symbolen der vier Evangelisten. Die Anordnung der vier Evangelisten finden wir in vielen Darstellungen. Im Petersdom in Rom sind sie z. B. in der Kuppel über dem Petrusaltar. Dargestellt sind die Vier in der Gestalt von Löwe, Mensch, Stier und Adler. Sowohl die Viergestalt (Tetramorph genannt – von griechisch tetra = vier und morphe = Gestalt) hat ihren Ursprung vermutlich in der babylonischen Mythologie. Über den Propheten Ezechiel sind sie in die Vorstellungswelt jüdisch-christlicher Ikonographie gekommen. Diese Prophetenschrift ist während des babylonischen Exils entstanden und hat sich auch inspirieren lassen von babylonischem Denken.
In Babylon galten die vier Gestalten als Träger des Himmelsgewölbes, das die Erde vom Himmel trennte. Sie waren daher immer in einer besonderen Nähe zu Gott gesehen worden. Babylon kannte vier Planetengötter, die sich auch in diesen Gestalten darstellte: Den Stadtgott Babylons Marduk, im Bild des Stiers; den Kriegsgott Nergal als Löwen, den Windgott Ninutra als Adler und Nabu, den Gott der Weisheit als Menschengestalt.
Die Zahl 4 ist in der Zahlmystik Babylons die Zahl der Endlichkeit der Welt. Die vier Himmelsrichtungen und die vier Jahreszeiten bezeugen diese Begrenzung. So hat man diese Viergestalt auch mit den Jahreszeiten verbunden: Stier mit dem Frühling, den Löwen mit dem Sommer, den Menschen mit dem Herbst und den Adler mit dem Winter.
Das Prophetenbuch übernimmt diese babylonische Mythologie und lässt die vier Wesen mit dem Gesicht eines Löwen, eines Menschen, eines Stieres, eines Adlers die Träger des Thronwagens der Herrlichkeit Gott JHWHs sein. Die Erhabenheit und Macht des einen und einzigen Gottes Israels erstreckt sich über die ganze Erde, über alle Himmelsrichtungen.
Vielfältige Deutungen
der Attribute der Evangelisten
Die Apokalypse des Johannes übernimmt die Symbolik des Ezechielbuches. Da sehen wir den Thron Gottes, den die vier Wesen – mit dem Gesicht eines Löwen, eines Menschen, eines Stieres, eines Adlers – umstanden. Die Wesen sind hier nicht mehr Träger der Himmelsgewölbe oder des Thronwagens Gottes. Sie stehen nun in der Gegenwart Gottes. Sie sind Teil des gegenwärtigen Gottes.
Im Laufe der Kirchengeschichte sind die Attribute der Evangelisten auch gedeutet worden: So hat der Bischof Irenäus von Lyon im 2. Jahrhundert den Löwen als Symbol der majestätischen Macht des Messias Jesus benannt; der Stier (als Opfertier) bezeichnete das Priesterliche, der Mensch das Menschgewordene, der Adler das Geistliche des Messias Jesus.
Hieronymus findet im 4. Jahrhundert andere Zuschreibungen: Matthäus wird mit dem Symbol des Menschen versehen, weil er sein Evangelium mit dem Stammbaum Jesu beginnt. Markus wird mit dem Löwen verbunden, weil am Anfang seines Evangeliums von Johannes dem Täufer als Rufer in der Wüste gesprochen wird. Hier liegt die Assoziation des brüllenden Löwen in der machtvollen Verkündigung des Täufers nahe. Lukas kommt zum Zeichen des Stieres, weil in seinem ersten Kapitel Zacharias, der Vater des Täufers Johannes, als im Tempel Opfernder vorkommt. Johannes mit seinem besonderen Stil wird mit höheren Erkenntnissen verbunden und kommt so zum Zeichen des Adlers.
In der Höhe des Mittelalters war das Symbol
Bei der Kanonisierung (Festlegung u. a., welche der Evangelien als Offenbarungsgut angesehen werden) hat diese Vierzahl eine Bedeutung gehabt. Im Blick auf die Viergestalt blieben schließlich vier Evangelien in der verbindlichen Sammlung (kanonischen Sammlung) der biblischen Bücher.
Unschwer lässt sich die Beziehung zur Bedeutung der Evangelisten herstellen: Sie bezeugen den gegenwärtigen Gott – wie er sich offenbart hat in der historischen Person des Jesus von Nazareth. Ihn bezeugen die Evangelisten als den Messias Gottes. In unserem Kreuz sind sie den Gekreuzigten umstehend. Sie stehen in der Gegenwart des Messias Jesus. Aus seiner Nähe bezeugen sie wahrhaftig und authentisch die Gegenwart des Messias Jesus im Wort ihrer Schriften. Sie sind Zeugen des Glaubens, dass Gott diesen Menschensohn auferweckt hat zum unendlichen Leben. Wer auf dieses Kreuz schaut, darf sich dieser Zusage des Lebens trotz aller Gewissheit der Vergänglichkeit zuwenden. Für die Geschichte unserer Stadt, für die Geschichte von St. Maria Lyskirchen ist der Bischof Maternus Vermittler und Verkünder dieser Glaubenshoffnung.